“Gerade für Minderheiten gibt es keine Alternative zur Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess. Nur so können sie ihren Interessen Geltung verschaffen. Insofern rufe ich vor allem türkeistämmige Wähler auf, an die Urnen zu gehen,” erklärt Mustafa Yeneroğlu (AK Partei), Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses der Großen Nationalversammlung der Türkei, anlässlich der Bundestagswahlen am Sonntag, den 24. September. Yeneroğlu weiter:
In den letzten Wochen ist viel über die allgemeine Erkenntnis diskutiert worden, dass die Parteien im Wahlkampf weniger die Lebenswirklichkeit der Bürger thematisiert haben, sondern vielmehr an den Sorgen der Bürger vorbei sich in Scheindebatten verzettelten. Die wenigsten Wähler werden heute bei den klassischen Themen Arbeit, Bildung, Gesundheit oder Steuern zwischen den sog. Volksparteien unterscheiden können. Vielmehr sind auch diese der Versuchung erlegen, populistische Argumente der rassistischen AfD zu adaptieren. Deshalb ist auch bei dieser Wahl die Türkeithematik allseits so intensiv bemüht worden, dass sich sämtliche Parteien im Wettbewerb wieder neutralisiert haben und die Anti-Türkeirhetorik wohl niemandem dienen wird als der AfD. Ohne die oft zitierte Rassismuskeule zu bemühen, gilt es mit großer Sorge festzustellen, dass früher undenkbare Tabubrüche über die Jahre so gesellschaftsfähig geworden sind, dass sie inzwischen fast schon zum guten Ton gehören.
Gerade für Minderheiten gilt es, stärker denn je politisch aktiv zu sein. Für Minderheiten gibt es keine Alternative zur Beteiligung am öffentlichen Leben und am politischen Willensbildungsprozess. Nur so sind sie ersichtlich, können teilhaben und den eigenen Interessen Geltung verschaffen. Minderheiten sind gezwungen, ihre Rechte einzufordern. Da, wo die Ausgrenzung und Marginalisierung am größten ist, muss am stärksten gestritten werden, nicht reaktiv und affektiv, sondern proaktiv und rational.
Dabei sind vor allem die Parteien, die sich über Vorhaltungen ihrer Nichtwählbarkeit aufgrund ihrer Türkei- und/oder Islam-Politik aufregen, gefragt, was sie denn aus Sicht von Muslimen im Allgemeinen und türkeistämmigen Wählern im Besonderen wählbar machen soll. Gerade für türkeistämmige Muslime, die am meisten Diskriminierungen ausgesetzt sind, stellen sich mitunter folgende Fragen:
• Welche Parteien befürworten die doppelte Staatsbürgerschaft?
• Wie stehen die Parteien zur Förderung der Muttersprache?
• Welche Partei setzt sich wirksam zur Bekämpfung von Rassismus und Islamfeindlichkeit ein?
• Welche Partei setzt sich glaubhaft für den Abbau von kulturalistisch bestimmten Verboten und Benachteiligungen wie das Kopftuchverbot ein?
• Welche Partei setzt sich für eine Ausweitung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auch auf das Verhältnis von Bürger und Staat ein, wo doch die meisten Diskriminierungen gerade im Bereich der Schule, Verwaltung und Polizei erfahren werden?
• Welche Vorschläge haben die Parteien zum Abbau von Diskriminierungen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt?
• Welche Parteien sind für die Einführung von Zielquoten für eine angemessene repräsentative Beteiligung von Minderheiten in Ämtern, Verwaltungen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen?
• Welche Partei setzt sich für eine konsequente Umsetzung der Empfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse ein, insbesondere im Hinblick auf die Aufklärung der Verwicklungen Sicherheitsbehörden?
• Welche Partei ist tatsächlich für ein Ende der Ausgrenzungspolitik gegenüber den islamischen Religionsgemeinschaften und für die konsequente Gleichstellung mit anderen religiösen Körperschaften des öffentlichen Rechts?
• Welche Partei will die Öffnung der Wohlfahrtspflege entsprechend den Bedürfnissen der Muslime in Gesundheit, Altenpflege, Kinder, Jugend und Familie und ihren Beiträgen in die öffentlichen Sozialversicherungskassen?
• Für Muslime ist es nicht minder wichtig, welche Haltung Parteien zum Israel-Palästina-Konflikt einnehmen, welche Position sie zu Konflikten in der islamischen Welt vertreten und wie sie mit der Flüchtlingsthematik und deren Ursachen umgehen.
• Wie stehen die Parteien zur Hoffnung der Türkeistämmigen bezüglich Normalisierung der Beziehungen zur Türkei? Wo setzen sie den Kontrapunkt auch in Ablehnung des Wettbewerbs zur Erlangung von antitürkischen Wählerstimmen?
• Welche Partei achtet die Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei und erfüllt ihre Solidaritätspflicht gegenüber dem Partner in der Bekämpfung von Terrororganisationen wie die PKK sowie ihrer Ersatzorganisationen?
• Wie stehen die Parteien zum Schutz von mutmaßlichen Putschisten durch Gewährung von Asyl in Deutschland, insbesondere ehemaligen Offizieren der türkischen Armee?
• Wie stehen die Parteien zur Liberalisierung der Visavergabe für türkische Staatsangehörige?
Ausschlaggebend ist die qualitative Positionierung der Parteien, sowohl programmatisch als auch realpolitisch. Nicht minder unbedeutend sind die Besonderheiten des deutschen Wahlsystems. Die Wahl zu boykottieren, kann keine Alternative sein. Wäre eine Wahlabstinenz die Lösung, wären über 15 Millionen „Langzeit“-Nichtwähler in Deutschland längst am Ziel. Minderheiten stehen insofern in der Pflicht, für ihre Positionen einzustehen und dafür politisch aktiv zu werden und zwar nicht nur an der Urne, sondern vor allem nach den Wahlen. Gerade jetzt, nachdem am Sonntag verkappte Nazis in den Bundestag einziehen werden!