“Die politische und mediale Aufarbeitung des abgewendeten Putschversuchs ist in höchstem Maße irritierend. In den Reaktionen schwingt eine gewisse Enttäuschung darüber mit, dass der gewählte Präsident und die Regierung nach wie vor im Amt sind”, erklärt Mustafa Yeneroğlu (AK Partei), Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses der Großen Nationalversammlung der Türkei, nach dem Putschversuch in der Türkei. Teile des Militärs haben in der Nacht von Freitag (15. Juli 2016) auf Samstag versucht, die Macht an sich zu reißen. Yeneroğlu weiter:

“Irritiert verfolgen wir hier aus der Türkei, wie auch in Deutschland die mediale und politische Aufarbeitung des vereitelten blutigen Putschversuches von Teilen des Militärs, der Verwaltung, der Sicherheitsbehörden und der Justiz erfolgt. Überraschend oft fallen in diesem Zusammenhang Begriffe wie ‘dilettantisch’ oder ‘stümperhaft’ bei der Berichterstattung über den niederträchtigen Coup, der beispiellos in seiner Brutalität war und 246 Menschen das Leben gekostet hat. Wäre er erfolgreich gewesen, das wissen wir bereits heute, hätte es wohl schon in den ersten Tagen tausende Hinrichtungen gegeben. Dennoch; unüberhörbar ist der nicht hinzunehmende ‘Unterton’ einer vorgeblichen Inszenierung, wohlwissend, dass es dafür nicht den Hauch eines Indizes gibt.

Geblendet von dem inzwischen zum guten Ton gehörenden Türkei- bzw. Erdoğan-Bashing verkennt man die Botschaft des abgewendeten Putschversuches und enthält der Öffentlichkeit die eigentlich wirkmächtigen Bilder und Emotionen der vergangenen Tage vor – etwa wie schwerbewaffnete Militärs mit Panzern und Kampfhubschraubern auf schutz- und wehrlose Menschenmengen schießen. Ebenso werden Menschen, die für ihren natürlichen Anspruch als Souverän aller Staatsgewalt sich mutig vor Panzer gestellt und den maßgeblichen Anteil an der Vereitelung des Putsches haben, größtenteils ignoriert.

Stattdessen wird die Debatte fokussiert auf vereinzelte Übergriffe auf Putschisten, die noch während des Widerstandes gegen schwerbewaffnete Militärs vereinzelt stattgefunden haben. Oder auf die Forderung großer Teile der Bevölkerung, noch unter dem massiven Eindruck der Gewalt, deren Zeuge sie wurde, wieder die Todesstrafe einzuführen. Noch bevor eine rechtliche Aufarbeitung begonnen hat, mutmaßt man über Hintergründe und wirft der Regierung sogar den Versuch eines Gegenputsches vor, wobei man scheinbar mehr über die Hintergründe weiß, als die ermittelnden Behörden in der Türkei.

Und obwohl eine parlamentarische Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht einmal begonnen hat, bauschen derzeit politisch Verantwortliche eine Drohkulisse auf, deren erhobener Zeigefingercharakter schlicht und einfach nicht hinnehmbar ist. Teilweise kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere in der aktuellen Berichterstattung eine gewisse Enttäuschung darüber mitschwingt, dass der gewählte Präsident und die Regierung nach wie vor im Amt sind.

Auch wenn diese Ignoranz irritiert, wirklich überraschen tut sie dann doch nicht. Der Umgang von großen Teilen deutscher Medien und Politik mit dem Putsch in Ägypten hat uns doch schon vor Jahren vor Augen geführt, dass die Wertegemeinschaft, von der immer die Rede ist, ab ihren Außengrenzen mit anderen Maßstäben hantiert und durchaus sich auch mit Putschisten arrangieren kann, wenn es denn den eigenen Interessen nützt.

Den Stolz des türkischen Volkes, blutrünstigen Putschisten, ihren Helfern und Helfershelfern die Stirn geboten zu haben, mindert das alles in keinster Weise. Mit ihrer in der Geschichte moderner Demokratien beispiellosen Zivilcourage und Opferbereitschaft hat sich die Bevölkerung bereits jetzt ein Denkmal gesetzt und Geschichte geschrieben. Der 15. Juli 2016 wird als ‘Tag der Demokratie’ in die Geschichte eingehen und wird jetzt schon als solcher gefeiert – Tag für Tag seit dem vereitelten Putschversuch.”

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